Seltene Gersten-Mutation mit Potenzial im Klimawandel

Jülich, 2. September 2021 – Wie wichtig das Wurzelsystem für die Höhe landwirtschaftlicher Erträge ist, wird häufig unterschätzt. Ob Wurzeln effektiv an Wasser und Nährstoffe herankommen, entscheidet auch darüber, wie widerstandsfähig wichtige Kulturpflanzen gegenüber Dürre und Klimawandel sind. Ein internationales Forschungsteam mit Jülicher Beteilung hat eine Mutante in Gerste entdeckt und beschrieben: Ihre Wurzeln wachsen deutlich steiler nach unten als normalerweise. Diese Entdeckung bietet potenziell einen Ansatzpunkt für die Züchtung dürreresistenterer Sorten. Die Studie ist nun in PNAS erschienen.

Gerste gehört zu den wichtigsten Getreidearten. Ihre Nutzung reicht vom Bierbrauen über Grütze, Graupen und Gerstenflocken bis hin zum Gerstenmehl. Wissenschaftler:innen von der Universität Bologna entdeckten vor einiger Zeit eine ungewöhnliche Mutante von Gerste: Ihre Wurzeln spreizen sich nicht zur Seite wie normalerweise, sondern sie wachsen kerzengerade nach unten. Sie nannten diese Mutante "hypergravitrop" – also viel stärker der Schwerkraft folgend als ihre Artgenossen. Wissenschaftler:innen der Universitäten Bonn und Bologna erforschten gemeinsam mit weiteren Kollegen, welche Ursachen dahinterstecken.

Gerstenwurzel
Sieben Tage alte Gerstenwurzeln der Mutante egt2: - Sie wächst strikt nach unten (hypergravitrop).
Gwendolyn Kirschner

Die Forschenden verglichen das Genom der Mutante mit normalwachsenden Gerstenpflanzen. Dabei entdeckten sie auf dem Chromosom Nummer fünf eine Mutation, die sie "enhanced gravitropism 2" (egt2) tauften. Dass egt2 tatsächlich für die steil nach unten wachsenden Wurzeln verantwortlich ist, bewiesen die Wissenschaftler:innen, indem sie bei normal ausgeprägten Gerstenpflanzen künstlich eine solche Mutation erzeugten. Das Ergebnis zeigt ein ähnliches Erscheinungsbild der Wurzeln.

Die Forscher:innen zogen die kleinen Gerstenpflanzen auf Keimpapier oder in Erde an. Hierbei wuchsen die Pflanzen in sogenannten Rhizotronen, speziellen Pflanzgefäßen, die eine transparente Scheibe zur Beobachtung der Wurzeln ausweisen, und erfassten die Wurzelwinkel mittels einer automatisierten Phänotypisierungsanlage am Forschungszentrum Jülich. Zudem wuchs die Gerste in speziellen "Blumentöpfen", die in einen Kernspintomographen passen. Mit dem bildgebenden Verfahren "durchleuchteten" die Wissenschaftler:innen die Erde und erfassten auf diese Weise das Wachstum der Wurzeln.

Pflanzen mit der egt2-Mutation reagieren weitaus sensibler auf den Einfluss der Schwerkraft als normale Exemplare. Die Mutation kommt allerdings nicht häufig vor. Mit Wissenschaftler:innen des John Innes Centre in Norwich (Großbritannien) konnte das Team nachweisen, dass es eine ganz ähnliche Mutante auch bei Weizenpflanzen gibt, das Gen also evolutionär konserviert ist. Das bedeutet, dass dieses Gen nicht nur bei der Gerste eine bedeutende Rolle spielt, sondern auch bei anderen wichtigen Getreiden.

Die Entdeckung der Mutation bietet nach Ansicht der Forscher:innen einen potenziellen Ansatzpunkt für neue Züchtungen. Steilere Wurzeln sind von Vorteil, wenn es darum geht, Wasservorkommen und mobile Nährstoffe in größerer Tiefe anzuzapfen. Andererseits durchdringt ein in die Breite wachsendes Wurzelsystem ein größeres Erdvolumen, kann deshalb großräumiger Nährstoffe erschließen und vermittelt den Pflanzen eine bessere Standfestigkeit. Es hängt deshalb vom jeweiligen Standort ab, welches Wurzelsystem die besseren Voraussetzungen für gute Erträge bietet. In trockneren Regionen könnten dies eher steile Wurzeln und in nährstoffärmeren Gegenden eher die flacher abgespreizten sein.

Wurzeln sind bisher in der Züchtung weitgehend vernachlässigt. Durch vermehrte Dürreperioden in Folge des Klimawandels könnte die Architektur des Wurzelsystems jedoch in Zukunft von großer Bedeutung sein. Dann könnte die Mutante mit den senkrechten Wurzeln eine Rolle bei der Züchtung von an den Klimawandel angepasste Sorten spielen. Die genaue molekulare Funktion des Gens konnten die Forschenden noch nicht entschlüsseln. Welche Signalwege die Mutante in den Gerstenpflanzen beeinflusst, soll weiter untersucht werden.

Originalpublikation:
Gwendolyn K. Kirschner, Serena Rosignoli, Li Guo, Isaia Vardanega, Jafargholi Imani, Janine Altmüller, Sara G. Milner, Raffaela Balzano, Kerstin A. Nagel, Daniel Pflugfelder, Cristian Forestan, Riccardo Bovina, Robert Koller, Tyll G. Stöcker, Martin Mascher, James Simmonds, Cristobal Uauy, Heiko Schoof, Roberto Tuberosa, Silvio Salvi, and Frank Hochholdinger: ENHANCED GRAVITROPISM 2 encodes a STERILE ALPHA MOTIF-containing protein that controls root growth angle in barley and wheat, PNAS, DOI: 10.1073/pnas.2101526118

Institut für Bio- und Geowissenschaften, Bereich Pflanzenwissenschaften (IBG-2)

Ansprechpartner:
Dr. Robert Koller
Institut für Bio- und Geowissenschaften, Bereich Pflanzenwissenschaften
Tel.: 02461 61-8681
E-Mail: r.koller@fz-juelich.de

Dr. Kerstin Nagel
Institut für Bio- und Geowissenschaften, Bereich Pflanzenwissenschaften
Tel.: 02461 61-9113
E-Mail: k.nagel@fz-juelich.de

Pressekontakt:
Erhard Zeiss, Pressereferent
Tel.: 02461 61-1841
E-Mail: e.zeiss@fz-juelich.de

Letzte Änderung: 19.05.2022