"Der Plastikmüll bleibt im Meer für Jahrzehnte!"
16. August 2023
Der Datenwissenschaftler Mikael Kaandorp erklärt im Interview, warum es nicht nur eine gute Nachricht ist, dass deutlich weniger Plastik in den Ozeanen landet als gedacht.

Offenbar gelangt nur etwa ein Zehntel der Kunststoffmenge ins Meer, verglichen mit dem, was bisher angenommen wurde. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Analyse von Mikael Kaandorp, der im November letzten Jahres von der Universität Utrecht in den Niederlanden an das Forschungszentrum Jülich wechselte. Die schlechte Nachricht: Das Plastik hält sich länger und es schwimmt zehnmal so viel davon im Meer wie bislang vermutet.
Die neue Studie in der Fachzeitschrift Nature Geoscience liefert eine lang gesuchte Lösung für das Rätsel um das "fehlende Plastik" in den Ozeanen und hat weltweit Beachtung gefunden. Jahrelang stellten sich Forschende die Frage, wo all die Kunststoffe sind, die Modellrechnungen zufolge in den Ozeanen landen müssten. Im Interview erklärt der Datenwissenschaftler Mikael Kaandorp vom Jülicher Institut für Bio- und Geowissenschaften (IBG-3), wie die neuen Zahlen zu verstehen sind und mit welchen Forschungsfragen er sich derzeit beschäftigt.
Dr. Mikael Kaandorp, was war die Motivation für diese Studie?
In den Jahren 2014 und 2015 gab es ein paar viel zitierte Studien, die zu dem Ergebnis kamen, dass jedes Jahr etwa 8 Millionen Tonnen Plastik ins Meer gelangen. Bei Messungen an der Meeresoberfläche fand man jedoch nur etwa 250 Tausend Tonnen. Das ist eine enorme Abweichung. Als Analogie kann man sich ein Bankkonto vorstellen. Wenn Sie jedes Jahr 8 Millionen verdienen, aber nur 250 Tausend auf Ihrem Konto haben, fragen Sie sich möglicherweise, wo all das restliche Geld geblieben ist. Die Frage war also: Wo ist das ganze Plastik? Diese Frage stand auch im Mittelpunkt meines Promotionsprojekts an der Universität Utrecht.
Für die Arbeit, die gerade veröffentlich wurde, haben wir ein großes, komplexes Computermodell erstellt. Es basiert auf so genannten Datenassimilationstechniken. Das heißt: Wir haben so viele Messungen wie möglich in das Modell aufgenommen. Wir haben zum Beispiel Messungen der Kunststoffkonzentration an der Meeresoberfläche und in tieferen Meeresschichten sowie Ergebnisse von Strandreinigungsaktionen berücksichtigt. Es gibt sehr viele Messungen, wir haben ungefähr 20 000 in der wissenschaftlichen Literatur gefunden.
Mit Hilfe dieser Messungen haben wir versucht, abzuschätzen, wie viel Plastik in die Ozeane gelangt und wo es letztlich landet. Dabei sind wir auf Zahlen gestoßen, die sich deutlich von denen der Studie von vor neun Jahren unterscheiden. Unserem Modell zufolge gelangen jährlich nur eine halbe Million Tonnen Plastik ins Meer, statt 8 Millionen. Und wir gehen davon aus, dass sich mehr Kunststoffe an der Oberfläche befinden als gedacht, nämlich 2 Millionen Tonnen statt der 250 Tausend Tonnen, die 2015 geschätzt wurden.
Sind die neuen Zahlen eine gute oder eine schlechte Nachricht?
In gewisser Weise beides. Einerseits ist es gut, dass der Müll in größeren Stücken auftritt. Diese lassen sich leichter aufsammeln, vor allem, wenn sie an den Strand gespült werden. Und natürlich ist es eine gute Nachricht, dass offenbar jedes Jahr viel weniger Plastik in die Ozeane gelangt. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass die Kunststoffe eine sehr lange Lebensdauer im Meer besitzen.
Wir wissen das, weil unser Modell ein recht genaues Bild der Massenbilanz liefert. Wenn man weiß, wie viel Plastik jedes Jahr ins Meer gelangt und wie viel derzeit im Meer schwimmt, kann man abschätzen, wie lange es dort bleiben wird.
Das Plastik bleibt dort jahrzehntelang! Das bedeutet, dass die Gesamtmenge zunimmt, nach unseren Schätzungen um 4 Prozent. Theoretisch würde sich die Menge an Plastik in zwanzig Jahren verdoppeln. Das ist eine schlechte Nachricht.
Worin liegen die Unterschiede zu früheren Studien?
In früheren Studien hat man sich vor allem auf Mikroplastik konzentriert, weil es davon tausendmal mehr im Meer gibt als von größeren Objekten. Daher findet man bei Messungen hauptsächlich dieses Mikroplastik. Die größeren Stücke werden oftmals übersehen. Ich hatte auch die Gelegenheit, mitzuerleben, wie diese Messungen durchgeführt werden. Während meiner Doktorarbeit habe ich dazu eine Forschungsreise zu den Azoren im Atlantik unternommen. Ziel war es, zu erfahren, wie diese Messungen in der Praxis ablaufen und ein besseres Gefühl für die bestehenden Grenzen zu entwickeln.
Ein entscheidender Punkt unserer Studie war die Feststellung, dass kleine Mikroplastikteile in den Ozeanen zahlenmäßig am häufigsten vorkommen. Aber es sind die größeren Teile, die größer als 2,5 Zentimeter sind, die den Großteil der Masse ausmachen, etwa 95 Prozent. Dies wurde in früheren Studien wahrscheinlich übersehen.
Auch jetzt gibt es noch viele offene Fragen. Zum Beispiel ist nicht klar, wie schnell das Plastik im Meer versinkt. Das ist ein äußerst komplexes Problem. Auf den Kunststoffen kann sich eine Algenschicht bilden. Dadurch werden sie schwerer als Meerwasser und die Stücke sinken nach unten. In verschiedenen Regionen des Ozeans gibt es aber unterschiedliche Algenarten, so dass dieser Prozess von Ort zu Ort unterschiedlich sein kann. Auch die Fragmentierung ist noch recht unsicher. Es ist nicht klar, wie schnell größere Teile in kleinere Teile zerfallen. Es gibt nur einige grobe Schätzungen, aber diese Rate könnte für verschiedene Arten von Kunststoffen, die unterschiedliche Eigenschaften haben, variieren.
Mit welchen Themen beschäftigen Sie sich derzeit?
In Jülich beschäftige ich mich jetzt mit ganz anderen Themen. Ich arbeite derzeit an der Modellierung der Landoberfläche und des -untergrunds im Rahmen des Sonderforschungsprojekts DETECT. Ich bin an der Datenassimilation beteiligt, wo wir numerische Modelle mit Beobachtungsdaten kombinieren. Die Methodik ist dem Vorgängerprojekt sehr ähnlich. Ziel ist es, abzuschätzen, inwiefern der Mensch durch seine jahrzehntelange Landnutzung und intensive Wassernutzung die gekoppelten Wasser- und Energiekreisläufe von Land und Atmosphäre nachhaltig verändert hat. Und inwieweit diese menschlichen Aktivitäten das sich im Wandel befindliche Klima beeinflussen.
Originalpublikation
Kaandorp, M.L.A., Lobelle, D., Kehl, C. et al.
Global mass of buoyant marine plastics dominated by large long-lived debris
Nat. Geosci. 16, 689–694 (2023). DOI: 10.1038/s41561-023-01216-0
Research Briefing: Estimates of global marine plastic mass demystify the missing plastic paradox
Nat. Geosci. 16, 665–666 (2023). DOI: 10.1038/s41561-023-01220-4