Entwicklung eines Netzhaut-ähnlichen Biochips

Ein internationales Team unter der Leitung der Jülicher Forscherin Francesca Santoro hat einen intelligenten Biochip entwickelt, der die Netzhaut des Auges nachahmt. Mit solcher und ähnlicher Bioelektronik hofft das Team, Fehlfunktionen im Körper und im Gehirn korrigieren zu können. Der Chip – eine Gemeinschaftsarbeit von Wissenschaftler:innen des Forschungszentrums Jülich, der RWTH Aachen, des Istituto italiano di tecnologia und der Universität Neapel - wird in „Nature Communications“ vorgestellt.

Forschungszentrum Jülich / Ralf-Uwe Limbach

Die Verschmelzung von Mensch und Maschine ist der Inbegriff einer Science-Fiction-Erzählung. In der Realität sind erste Schritte hin zu solchen Cyborgs längst getan: Menschen tragen Herzschrittmacher gegen Rhythmusstörungen oder Cochlea-Implantate, um die Hörfähigkeit zu verbessern. Und Netzhaut-Implantate helfen fast Blinden, zumindest ein wenig zu sehen. Ein neuer Chip könnte dazu beitragen, dass sich Netzhaut-Implantate künftig noch besser mit dem menschlichen Körper verschmelzen lassen: Er basiert auf leitenden Polymeren und lichtempfindlichen Molekülen, mit denen sich die Netzhaut inklusive Sehbahnen nachahmen lässt. Entwickelt hat ihn die Arbeitsgruppe um Prof. Francesca Santoro am Jülicher Institut für Bioelectronics (IBI-3) in Zusammenarbeit mit der RWTH Aachen, dem Istituto italiano di Tecnologia in Genua und der Universität Neapel.

„Unser organischer Halbleiter erkennt, wie viel Licht auf ihn fällt. Ähnliches passiert in unserem Auge. Durch die Menge an Licht, die auf die einzelnen Fotorezeptoren trifft, entsteht schließlich das Bild im Gehirn“, erläutert Santoro, die zugleich Professorin für Neuroelektronische Grenzflächen an der RWTH Aachen sowie Gastwissenschaftlerin am Istituto italiano di Tecnologia ist.

Vielseitiger Chip

Die Besonderheit des neuen Halbleiters: Er besteht vollständig aus nicht toxischen organischen Komponenten, ist verformbar und funktioniert mit Ionen, also mit geladenen Atomen oder Molekülen. Dadurch lässt er sich deutlich besser in biologische Systeme integrieren als herkömmliche steife Halbleiterbauteile aus Silizium, die nur mit Elektronen arbeiten. „Unsere Körperzellen nutzen insbesondere Ionen, um bestimmte Prozesse zu steuern und Informationen auszutauschen“, erklärt die Forscherin. Die Entwicklung sei allerdings erst ein „Proof-of-concept", betont sie. Man habe das Material synthetisiert und anschließend charakterisiert: „Wir konnten zeigen, dass sich damit die typischen Eigenschaften der Retina nachahmen lassen“, sagt sie.

Und die Forscher:innen denken schon an eine weitere Einsatzmöglichkeit: Der Chip könnte auch als künstliche Synapse fungieren, weil Lichteinstrahlung die Leitfähigkeit des verwendeten Polymers kurz- und langfristig ändert. Ähnlich arbeiten echte Synapsen: Indem sie elektrische Signale weiterleiten, verändern sie zum Beispiel ihre Größe und ihre Effizienz, worauf die Lern- und Speicherfähigkeit unseres Gehirns basiert. „In künftigen Experimenten wollen wir die Bauteile mit biologischen Zellen koppeln und viele einzelne zusammenschalten“, blickt Santoro voraus.

Neuronen verstehen

Neben der künstlichen Retina entwickelt das Team um Santoro weitere Ansätze für bioelektronische Chips, die auf ähnliche Weise mit dem menschlichen Körper interagieren können, speziell mit den Zellen des Nervensystems. „Wir versuchen einerseits, die dreidimensionale Struktur der Nervenzellen und andererseits auch deren Funktionen, zum Beispiel das Prozessieren und Speichern von Informationen, nachzubauen.“

Die Biopolymere, die sie bei der künstlichen Retina verwendeten, erwiesen sich hierbei als passendes Ausgangsmaterial. „Damit können wir die verzweigte Struktur der menschlichen Nervenzellen mit ihren vielen Dendriten nachbilden. Man kann sich das ein bisschen wie einen Baum vorstellen“, verdeutlicht die Wissenschaftlerin. Dies sei wichtig, weil echte Zellen solche verästelten dreidimensionalen Strukturen gegenüber glatten Oberflächen bevorzugen und auf diese Weise enge Kontakte zu den künstlichen knüpfen würden.

Die unterschiedlichen Biochips können zum einen genutzt werden, um echte Neuronen zu studieren – zum Beispiel den zellulären Informationsaustausch. Zum anderen hoffen Santoro und ihr Team, irgendwann mit ihren Bauteilen aktiv in die Kommunikationswege der Zellen eingreifen zu können, um bestimmte Effekte auszulösen. Santoro denkt hier beispielsweise daran, Fehler bei der Verarbeitung und Weiterleitung von Informationen zu beheben, die bei neurodegenerativen Krankheiten wie Parkinson oder Alzheimer auftreten. Oder an die Unterstützung von Organen, die nicht mehr richtig funktionieren. Daneben könnten solche Bauteile auch als Schnittstelle zwischen künstlichen Gliedmaßen oder Gelenken dienen.

Auch die Computertechnik könnte profitieren. Aufgrund ihrer Eigenschaften sind die Chips prädestiniert dafür, als Hardware für künstliche neuronale Netze zu dienen. Bisher funktionieren KI-Programme noch mit klassischen Prozessoren, die ihre Struktur nicht anpassen können. Die selbstlernende Arbeitsweise sich verändernder neuronaler Netze ahmen sie lediglich mittels ausgeklügelter Software nach. Das ist sehr ineffizient. Die künstlichen Neuronen könnten diesen bisherigen Mangel beheben: „Sie würden eine Computertechnik ermöglichen, die die Arbeitsweise des Gehirns auf allen Ebenen imitiert“, sagt Santoro.

Text: Janosch Deeg

Originalpublikation:

Federica Corrado et al, Azobenzene-based opto-electronic transistors for neurohybrid building blocks, Nat. Commun. (2023) DOI: 10.1038/s41467-023-41083-2

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    Text erschienen in effzett Ausgabe 2-2023
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    Letzte Änderung: 18.02.2024