Informationsverarbeitung in der Retina

AG Prof. Dr. Frank Müller
Institut für Biologische Informationsprozesse
Molekular- und Zellphysiologie (IBI-1)
Forschungszentrum Jülich

Die Wahrnehmung visueller Reize beginnt in der Retina, der Netzhaut, in unserem Auge. Die Retina ist ein Vorposten des Gehirns. Sie enthält nicht nur die lichtempfindlichen Sehzellen – Photorezeptoren in den Varianten Stäbchen und Zapfen - sondern auch ein ausgeklügeltes Netzwerk aus Nervenzellen, das die Information der Sehzellen verarbeitet, bevor es sie an das Gehirn weiterleitet. Insgesamt gibt es mindestens 60 verschiedene Nervenzelltypen in der Retina. Die AG Müller untersucht wie das retinale Netzwerk aufgebaut ist und die verschiedenen Zelltypen in der Netzhaut Information verarbeiten und weiterleiten.

Wir verwenden in unserer Forschung eine Vielzahl verschiedener Methoden. Wir benutzen elektrophysiologische Verfahren, wie beispielsweise Multielektrodenableitungen, Methoden der Biochemie und Molekularbiologie, außerdem Immunhistochemie und Konfokale Laserscanning Mikroskopie. Mit Hilfe von Imagingtechniken zeigen wir an lebenden Nervenzellen, wie sich die Konzentration wichtiger intrazellulärer Botenstoffe (wie Calcium, cAMP oder cGMP) im Rahmen der Signalverarbeitung verändert. Dazu setzen wir auch sogenannte optogenetische Methoden ein.

Anatomie des Auges: der optische Apparat des Auges bildet die Umwelt auf den Augenhintergrund ab, der von der Netzhaut ausgekleidet wird.

Analyse des retinalen Netzwerks
Die Augen sind unsere wichtigsten Sinnesorgane. Sie übermitteln uns 70 – 80% der Information, die wir über unsere Umwelt erfahren. Wenn Licht auf einen Photorezeptor in der Retina fällt, wird eine molekulare Reaktionskette gestartet, an deren Ende sich die elektrische Spannung an der Zellmembran ändert. Das führt dazu, dass an den Synapsen, den Verbindungsstellen zu nachgeschalteten Nervenzellen, weniger von dem Botenstoff Glutamat ausgeschüttet wird – eine Veränderung, die von den nachgeschalteten Zellen erkannt, verarbeitet und weitergemeldet wird.
Wichtige Signalpfade stellen dabei die Bipolarzellen dar. Sie verbinden die Photorezeptoren mit den Ganglienzellen der Netzhaut, die dann die Signale an das Gehirn weiterleiten. Insgesamt gibt es ca. 1 Dutzend Typen von Bipolarzellen. Sie sind nicht einfach Sammelstellen für Signale, die von den Sehzellen eintreffen, sondern sie filtern aus deren Nachrichtenstrom wichtige Informationen heraus, wie Nachrichtenagenturen, die aus der Vielfalt des Weltgeschehens ihre Meldungen zusammenstellen. So reagieren manche Bipolarzelltypen schnell, aber nur kurz, andere langsamer, aber dafür anhaltend. Einige werden erregt, wenn die Sehzellen „Licht an“ melden, andere hingegen reagieren auf „Licht aus“ und manche wiederum nur auf bestimmte Farben. Wir haben in den letzten Jahren neue Bipolarzelltypen identifiziert und elektrophysiologisch mit der Patch-clamp Methode charakterisiert. Dabei konnten wir zeigen, dass sich die verschiedenen Bipolarzellen in der Ausstattung mit Ionenkanälen – molekularen Schaltern in der Zellmembran – unterscheiden. Wir haben gezeigt, dass die Ausstattung mit Ionenkanälen die physiologischen Eigenschaften der jeweiligen Bipolarzellen entscheidend beeinflusst.

Konfokale Laserscanning Mikroskopie eines Schnittes durch die Netzhaut (das Licht käme hier von unten). Das Bild wurde aus mehreren mikroskopischen Aufnahmen zusammengebaut. Die verschiedenen Zelltypen sind durch spezielle Färbetechniken mit unterschiedlich leuchtenden Antikörpern sichtbar gemacht. Oben sind die lichtempfindlichen Zellen, die Photorezeptoren, zu erkennen (Zapfen dunkelblau, Stäbchen hellblau). Einige der verschiedenen Bipolarzelltypen sind in unterschiedlichen Violettabstufungen dargestellt, eine Ganglienzelle, die die Information ans Gehirn weiterleitet, in gelb. Weitere Nervenzelltypen sind in rot (Horizontalzellen) oder in orange (Amakrinzelle) gezeigt.

Molekulare Notbremse im Auge
Das menschliche Auge hat bemerkenswerte Eigenschaften. Wir können in finsterer Nacht bei schwachem Sternenlicht sehen, aber ebenso bei strahlend hellem Sonnenschein, wenn zehn Milliarden Mal mehr Licht ins Auge fällt. Während die Stäbchen sehr lichtempfindlich sind und uns das Sehen in der Nacht ermöglichen, sehen wir mit den weniger empfindlichen Zapfen bei Tage. In einem Übergangsbereich, z.B. in der Dämmerung, sind sowohl Stäbchen als auch Zapfen aktiv. Die Zusammenarbeit der Stäbchen und Zapfen muss dann genau geregelt werden, um die Balance zwischen den sehr unterschiedlichen Sehzelltypen zu bewahren. Wir haben einen Mechanismus, der diese Balance ermöglicht, auf der molekularen Ebene aufgeklärt.
Stäbchen verwenden dazu den Ionenkanal HCN1. Er vermindert im Dämmerungsbereich, dass Stäbchen durch helle Lichtreize übermäßig geblendet werden. HCN1 wird aktiviert, wenn sich die Membranspannung der Stäbchen bei der Belichtung stark ändert und wirkt dann dieser Änderung entgegen. Dadurch reduziert er das Ausmaß der Spannungsänderung so, dass die Stäbchenantwort nicht „am Anschlag“ ist. Die Stärke des Signals, das die Stäbchen in das retinale Netzwerk einspeisen, wird so auf ein sinnvolles Maß reduziert, um die Verarbeitung der Zapfensignale im retinalen Netzwerk nicht zu stören. Der Ionenkanal wirkt also wie eine molekulare Notbremse, um Blendung zu minimieren. In Mäusen, die aufgrund eines genetischen Defekts diesen Ionenkanal nicht mehr bilden können, reagieren die Zellen in der Retina dagegen so, als wären sie durch helles Licht geblendet. Indem wir untersuchten, wie sich die Antworten von Retinazellen nach dem gezielten Ausschalten weiterer Signalproteine und Signalwege in den Stäbchen- und Zapfenpfaden ändern, konnten wir die Weiterleitung der Stäbchensignale durch das gesamte retinale Netzwerk verfolgen.

Patch-clamp-Messungen: Links: Antwort einer sogenannten ON-Ganglienzelle in einer normalen Mausretina auf eine Serie von Lichtblitzen (Pfeile). Die Ganglienzelle reagiert auf jeden Lichtblitz mit einer kurzen Salve von Aktionspotentialen (Auslenkungen in der Spur). Diese Zelle meldet den Lichtreiz verlässlich an das Gehirn weiter. Rechts: In der Retina einer Maus, die den Ionenkanal HCN1 nicht mehr bildet, reagiert die Zelle mit einer massiven Dauererregung. Noch Sekunden nachdem die Reize ausgeschaltet wurden, meldet die Zelle blendendes Licht an das Gehirn.

Retinale Degeneration und Entwicklung neuer Retinaimplantate

Stäbchen und Zapfen, die abgestorben sind, können von der Retina nicht ersetzt werden. Bestimmte degenerative Erkrankungen der Netzhaut führen zum weitgehenden Verlust der Photorezeptoren und somit zur Erblindung. Das innere Netzwerk der Retina bleibt aber bestehen, ebenso die Verbindung zum Gehirn. Eine mögliche Therapie besteht darin, die verbleibenden Nervenzellen in der Netzhaut elektrisch zu reizen, um so eine Sehwahrnehmung auszulösen. Die Ergebnisse, die mit derartigen Netzhautimplantaten erreicht werden, sind zwar hoffnungsvoll, bleiben aber oft hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück. Als Gründe hierfür werden verschiedene Faktoren diskutiert, darunter auch Umbauprozesse, die im Rahmen des Degenerationsverlaufs in der Retina auftreten („remodeling“). Wir untersuchen, wie sich die anatomischen und physiologischen Eigenschaften der Retina durch solche Umbauprozesse ändern. Wir fanden z.B., dass die degenerierte Retina sich durch Implantate schlechter stimulieren lässt als die normale Retina. Dies könnte erklären, warum die Leistung derzeitiger Implantate oft hinter den Erwartungen zurückbleibt. Zusammen mit Kollegen des Forschungszentrums Jülich, der Universitätsaugenklinik Aachen, der RWTH und der Uni Duisburg-Essen versuchen wir neue Konzepte für die Elektrostimulation der Retina zu entwickeln.

Messungen mit Multielektrodenarrays. Oben: Messung der spontanen Aktivität in einer normalen Retina (links) und in einer degenerierten Retina, in der die Photorezeptoren abgestorben sind (rechts). Die normale Retina zeigt eine relativ flache Basislinie sowie mehr oder minder regelmäßig auftretende Aktionspotentiale (vertikale Auslenkungen). Aktionspotentiale zeigen Aktivität in der Retina an. In der degenerierten Retina zeigt sich eine krankhafte rhythmische Aktivität sowohl in der Basislinie als auch in der Bündelung der Aktionspotentiale in kurzen Salven. Unten: Die erfolgreiche elektrische Stimulation der Retina durch ein Implantat löst eine Salve von Aktionspotentialen aus. In der degenerierten Retina gelingt das weniger effizient, als in der normalen Retina, was die Leistung von Implantaten reduziert.

Bericht des Forschungszentrums zu Arbeiten der AG Müller:

Das menschliche Auge ist ein Supercomputer, Titelthema im effzett Magazin

Weiterführender Link zum GraduiertenkollegInnovative Schnittstellen zur Retina für optimiertes künstliches Sehen – InnoRetVision“

Video des Forschungszentrums zu Arbeiten der AG Müller

Leicht verständliche Einführung in die Sinne

Frings, S. und Müller, F. „Biologie der Sinne – vom Molekül zur Wahrnehmung“. 2. Auflage. Springer Spektrum 2019.

Ausgewählte Veröffentlichungen

Müller, F. und Kaupp, U.B. (1998): Signaltransduktion in Sehzellen. Naturwissenschaften 85:49-61.

Müller, F., Scholten, A., Ivanova, E., Haverkamp, S., Kremmer, E., und Kaupp, U.B. (2003): HCN channels are differentially expressed in retinal bipolar cells and concentrated at synaptic terminals. European Journal of Neuroscience 17: 2084-2096.

Ivanova, E. und Müller, F. (2006): Retinal bipolar cells differ in their inventory of ion channels. Visual Neuroscience 23: 143-154.

Mataruga, A., Kremmer, E. und Müller, F. (2007): Type 3a and 3b OFF-cone bipolar cells provide for the alternative rod pathway in the mouse retina. Journal of Comparative Neurology 502: 1123-1137.

Knop, G., Seeliger, M.W., Thiel, F., Mataruga, A., Kaupp, U.B., Friedburg, C., Tanimoto, N, und Müller, F. (2008): Light responses in the mouse retina are prolonged upon targeted deletion of the HCN1 channel gene. European Journal of Neurosience 28:2221-2230

 Wässle, H., Puller, C., Müller, F. und Haverkamp, S. (2009): Cone contacts, mosaics, and territories of bipolar cells in the mouse retina. Journal of Neuroscience 29: 106-117.

 Seeliger, M.W., Brombas, A., Weiler, R., Humphries, P., Knop, G., Tanimoto, N., and Müller, F. (2011): Modulation of rod photoreceptor output by HCN1 channels is essential for regular mesopic cone vision. Nature Communications 2:532/DOI:10.1038/ncomms1540

Biswas S, Haselier C, Mataruga A, Thumann G, Walter P, Müller F. Pharmacological analysis of intrinsic neuronal oscillations in rd10 retina. PloS one. 2014;9(6):e99075. doi: 10.1371/journal.pone.0099075.

 Rösch, S, Johnen, F. Müller, C. Pfarrer, P. Walter, “Correlations between ERG, OCT, and Anatomical Findings in the rd10 Mouse”, Journal of Ophthalmology. 2014

 Haselier C, Biswas S, Rösch S, Thumann G, Müller F, Walter P. Correlations between specific patterns of spontaneous activity and stimulation efficiency in degenerated retina. PLoS ONE. 2017;12(12):e0190048.

 Rincon Montes, V, Gehlen, J, Lück, S, Mokwa, W, Müller, F, Walter, P, Offenhäusser, A. Toward a bidirectional communication between retinal cells and a prosthetic device – a proof of concept. Front Neurosci 2019 Apr 30;13:367. doi: 10.3389/fnins.2019.00367. eCollection 2019.

Last Modified: 21.03.2022