Perspektiven einer gesellschaftsorientierten Wissenschaft
von Wolfgang Marquardt
In letzter Zeit wird öffentlich immer öfter die Entfremdung der Wissenschaft von der Gesellschaft beklagt. „Die Wissenschaft muss ihren Elfenbeinturm verlassen, sich mehr an den Sorgen, Problemen, Herausforderungen und Zielen der Gesellschaft ausrichten“ – so ähnlich lautet oft die damit verbundene Forderung an die Wissenschaft.
Aber ist eine auf die Belange der Gesellschaft bezogene, an ihnen orientierte Wissenschaft wirklich etwas Neues? Schließlich hat schon Gottfried Wilhelm Leibniz im Jahr 1709 festgestellt: „Man müsste gleich anfangs das Werk samt der Wissenschaft auf den Nutzen richten.“ Er spricht von Nutzen und damit von einem gesellschaftlichen Kontext, in dem Wissenschaft sich beweisen müsste. Und auch einer der profiliertesten Gewährsmänner des 20. Jahrhunderts für eine von gesellschaftlichen Verpflichtungen freigestellte Grundlagenforschung, Vannevar Bush, hat die Wissenschaft als Teil eines Beziehungsgeflechts verschiedener Akteure betrachtet: „Science can be effective in the national welfare only as a member of a team, whether the conditions be peace or war.“ Wissenschaft ist also offenbar seit jeher in einem gesellschaftlichen Kontext gedacht worden.

Prof. Wolfgang Marquardt, Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich
Entscheidend ist nicht, „ob“ die Wissenschaft die Gesellschaft im Blick hat, sondern „wie“ sie dies tut. Heute bestimmen die Großen gesellschaftlichen Herausforderungen die Perspektive, also der Beitrag der Wissenschaft zur nachhaltigen Entwicklung von Gesellschaften in einer sich rasant verändernden Welt. Das Spannende an dieser neuen Perspektive ist, dass sich damit der Fokus von der Ergebnisorientierung zur Prozessorientierung verschiebt. Wir sprechen deshalb von transformativer Wissenschaft und meinen damit, dass wir von der Wissenschaft erwarten, sich in neuer Weise darauf zu fokussieren, wie sich die Beziehungen zu den unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren gestalten, die gemeinsam große Veränderungsprozesse bewältigen müssen.
Die Akteure, die in diesem Prozess miteinander in Beziehung stehen, sind uns allesamt bekannt: Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft. Einen dieser Akteure möchte ich beispielhaft herausgreifen: Die sogenannte Zivilgesellschaft. „Sogenannt“ deshalb, weil das Wort im Grunde eine Verlegenheitskonstruktion ist. Es suggeriert nämlich eine Homogenität, die es so nicht gibt. Im Gegenteil: Bürgerinnen und Bürger, Wählerinnen und Wähler, Konsumenten, Patienten, Bürgerinitiativen, Interessenverbände, NGOs etc.: All das ist Zivilgesellschaft. Jeder von uns ist in vielerlei Hinsicht und in unterschiedlichen Rollen ständig Zivilgesellschaft.
Die Herausforderung ist, dass es sehr schwierig ist, einen solchen Akteur kontinuierlich in große Veränderungsprozesse einzubinden. Er ist ebenso machtvoll, wie schwer zu fassen. Wir kennen ihn eigentlich nicht gut genug. Wir wissen nicht gut genug darüber Bescheid, welche konkreten Ansprüche und Erwartungen er an die Wissenschaft stellt.
Was wir wissen: Wenn die Zivilgesellschaft etwas nicht will, dann äußert sie sich unüberhörbar. Grüne Gentechnik, Tierversuche, Kernkraft, um nur einige wenige zu nennen: Da hören wir das „Nein“ sehr deutlich. Wie gehen wir damit um? Wie kommen wir in einen echten Austausch, und zwar nicht erst dann, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist und das „Nein“ im Raum steht?
Ein gemeinsames Thema zu haben, wie etwa die Großen gesellschaftlichen Herausforderungen, ist ein Anfang. Es reicht aber nicht, auch wenn das Thema groß und wichtig ist. Erfolgreich kann man erst dann sein, wenn man weiß, wie man darüber in einen konstruktiven Dialog kommen kann. Dieser Dialog muss alle Stakeholder einbinden, in ihren unterschiedlichen Rollen. Eine wirklich gesellschaftsorientierte Wissenschaft kann nach heutigem Verständnis nicht erfolgreich sein, wenn es ihr nicht gelingt, mit der Gesellschaft als Ganzes ins Gespräch zu kommen. Und weil es die Gesellschaft genau so wenig wie die Wissenschaft als Ganzes gibt, kann das nur bedeuten, möglichst viele Diskursebenen, -kanäle und -formate zu möglichst vielen Bezugsgruppen in Wissenschaft und Gesellschaft zu entwickeln.
Einfach gesagt: Der Diskurs darf nicht auf der Ebene der Eliten bleiben. Die Devise muss lauten, raus ins Feld der Bürgerinnen und Bürger, der ganz normalen Leute, zu gehen. Wir im Forschungszentrum versuchen, einen Weg des Dialogs und des Austauschs mit der Gesellschaft zuerst einmal in unserer Nachbarschaft aktiv zu gestalten: In Form des „Jülicher Nachbarschaftsdialogs“. Hier diskutieren seit 2015 lokale und regionale Akteure aus vielen gesellschaftlichen Gruppen gemeinsam mit uns über Infrastrukturfragen ebenso wie über aktuelle Forschungsvorhaben und die möglichen Bedenken seitens der verschiedensten Akteure bei sensiblen Themen. Ziel dieses Austauschs sind gegenseitiges Vertrauen und Akzeptanz.
Ehrlich gesagt: Das haben wir uns am Anfang deutlich einfacher vorgestellt. Denn was der Bürger manchmal wissen möchte, lässt sich nicht immer auf den ersten Blick erkennen. Gleichzeitig wage ich die These, dass auch der Bürger gar nicht immer weiß, was er mit der Wissenschaft besprechen möchte. Zu beobachten ist jedoch: Der gegenseitige Kontakt wird gesucht und geschätzt.
Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung entbinden uns jedoch noch lange nicht von unserer Aufgabe, immer wieder neue, vielfältige Gesprächsangebote zu unterbreiten, partizipative Formate anzubieten, die Bürger einzubinden. Klar ist, dass die Wissenschaft hier in Vorleistung gehen und vielleicht auch mehr leisten muss, als in der Vergangenheit. Klar ist auch, dass die Wissenschaft hierbei den Umgang mit einer anderen Prioritätensetzung, einer anderen Sprache, mit mehr Emotion, manchmal mit Irrationalitäten lernen muss. Es geht nicht darum, dass sich der Wissenschaftler und der kritische Bürger einander anpassen. Es gilt, eine gemeinsame Ebene zu finden, eine Basis, auf der ein gewinnbringender Austausch aufgebaut werden kann.
Hier kommt meiner Meinung nach der Politik eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle zu: Sie ist es, die Leitplanken für Transformationsprozesse setzen muss, die Spielregeln definiert und letztlich mit ihrem Beitrag zur politischen Willensbildung Rahmenbedingungen für die Gesellschaft schafft. Die Politik ist in der Pflicht, eine Basis für eine Beziehung zwischen allen Beteiligten zu schaffen, auf die sich die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure verständigen können. Diese Basis sind aus meiner Sicht gemeinsame Wertvorstellungen der Beteiligten. Denn nicht nur gemeinsame Ziele sind Voraussetzung für Erfolg, sondern auch gemeinsame Werte. Auch wenn ich mir darüber bewusst bin, dass das kein profanes Anliegen ist: Ich bin der Überzeugung, dass wir es nur so schaffen, anstatt eines späten „Nein“ auch einmal ein frühes und tragfähiges „Ja“ für notwendige Veränderungen zu erreichen.
Dies ist eine Zusammenfassung der Rede, die Prof. Wolfgang Marquardt im Dezember 2017 im Rahmen der Preisverleihung „Transformative Wissenschaft“ des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt und Energie zum Thema „Zu den Perspektiven einer gesellschaftsorientierten Wissenschaft“ gehalten hat. Die Rede im Volltext finden Sie auf der Website des Forschungszentrums.