COVID-19: Simulationen zeigen möglichen Verlauf für verschiedene Maßnahmen

Jülich, 9. November 2020 – Zurzeit befindet sich Deutschland aufgrund des raschen Anstiegs der gemeldeten COVID-19-Fälle im „Lockdown Light“. Doch wie wird die Entwicklung wohl weiter gehen? Das Forschungszentrum Jülich hat in Kooperation mit dem Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) verschiedene mögliche Szenarien für den weiteren Verlauf der Pandemie berechnet. Dazu wurden unterschiedlich viele und unterschiedlich strikte Shutdown-Perioden für die Zeit bis Mai 2021 angenommen. Die Ergebnisse können hilfreiche Informationen liefern, um die lang- und mittelfristige Auswirkung von unterschiedlich starker Kontaktreduktion auf das Infektionsgeschehen zu betrachten; die Wirksamkeit konkreter politischer Vorgaben lässt sich mit ihrer Hilfe nicht unmittelbar ableiten.

Angesichts des raschen Anstiegs der gemeldeten COVID-19-Fälle in Deutschland wurde am 28.10.2020 ein 4-wöchiger (ab dem 2.11) „Lockdown Light“ angekündigt. Anhand mathematischer Modelle, die schon im Lauf der ersten COVID-19-Welle für Vorhersagen entwickelt wurden, haben die Forscherinnen und Forscher nun mögliche Szenarien für den weiteren Verlauf der Pandemie bis ins Frühjahr 2021 simuliert.

Die Simulationen geben an, wie viele täglich gemeldete Neuinfektionen im jeweiligen Szenario zu erwarten sind, und wie viele Intensivbetten für die Versorgung der Patienten gemäß der Vorhersage erforderlich würden. Die Ergebnisse legen nahe, dass der vierwöchige „Lockdown Light“ im November allein nicht ausreichen könnte, um eine dritte, noch deutlich stärkere Covid-19-Welle im Winter zu vermeiden, wenn danach alle Maßnahmen dieses „Lockdown“ aufgehoben werden sollten. Die Einführung von ein bis zwei weiteren zweiwöchigen Shutdown-Perioden im Winter und Frühjahr als „Wellenbrecher“ könnte es dagegen ermöglichen, Grundaktivitäten aufrecht zu erhalten und die Covid-19-Wellen unter Kontrolle zu halten.

Als Alternative zu strikten, zeitlich begrenzten Shutdown-Perioden zeigen die Simulationen, dass auch dauerhaft geltende, weniger einschränkende Maßnahmen, wie sie vielerorts bereits vor dem „Lockdown Light“ eingeführt wurden, geeignet sein könnten, um die Epidemie in Deutschland dauerhaft einzudämmen.

„Unsere langfristigen Szenario-Modellierungen sind qualitativ zu verstehen und beanspruchen nicht, den realen Verlauf exakt vorherzusagen“, sagt Dr. Jan Fuhrmann vom Simulation Lab Epidemiology and Pandemic des Jülich Supercomputing Centre (JSC). „Die Szenarien zeigen aber gut auf, wie sich die Epidemie unter verschiedenen Maßnahmen entwickeln würde. Wir betonen, dass die in den Simulationen vorhergesagten, teils sehr hohen Fallzahlen nur dann eintreten, wenn entsprechende weitere, zur Eindämmung notwendige Maßnahmen nicht getroffen werden. Das wären zum Beispiel lokal begrenzte Shutdown-Perioden, die in den Szenarien bisher nicht berücksichtigt werden,“ erklärt Jan Fuhrmann, der die Entwicklung der Corona-Epidemie in Zusammenarbeit mit Dr. Maria Barbarossa vom Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) berechnet hat.

 
 

1. Szenario: 4-wöchiger Shutdown im November, danach keine weiteren Maßnahme

 

Intensivbetten-Belegung

  

Tägliche Neuinfektionen
(7-Tages-Mittel)

Ohne einen Shutdown im November würden die Neuinfektionen im Januar bei über 100.000 im Sieben-Tages-Mittel liegen. Zeitweilig wären bis zu 35.000 Intensivbetten erforderlich. Doch auch ein 4-wöchiger Shutdown im November reichte alleine nicht aus, um einen zeitweiligen Anstieg der Intensivpatienten auf über 20.000 im Februar/März 2021 zu verhindern. Ein Ausklingen der Zahlen wird erst für Ende Mai 2021 vorausgesagt.

 
 

2. Szenario: 4-wöchiger Shutdown im November, danach ein zusätzlicher 2-wöchiger Shutdown

 

Intensivbetten-Belegung

  

Tägliche Neuinfektionen
(7-Tages-Mittel)

Die Zahl der Neuinfektionen würde ab März 2021 wieder einen Höhepunkt erreichen, wenngleich es nicht so viele wie in Szenario 1 wären: maximal bis zu 40.000 - 50.000 gemeldete Infektionen täglich. Die Zahl der voraussichtlich erforderlichen Intensivbetten könnte auf unter 20.000 reduziert werden. Auch in diesem Szenario könnte ein Ausklingen ab Ende Mai erreicht werden.

 
 

3. Szenario: 4-wöchiger Shutdown im November, danach 2 zusätzliche 2-wöchige Shutdowns

 

Intensivbetten-Belegung

  

Tägliche Neuinfektionen
(7-Tages-Mittel)

Im Fall dreier "Soft Shutdowns" wird der Höhepunkt im Februar erwartet, in anderen Kombinationen mit „Strong Shutdowns“ früher und mit weniger als 40.000 täglichen Neuinfektionen. In einigen Kombination fällt die Zahl der benötigten Intensivbetten sogar unter 10.000.

Was bedeutet „Soft / Strong / Severe Shutdown“?

Die Unterscheidung zwischen „Soft / Strong / Severe Shutdown“ bezieht sich nicht direkt auf konkrete, real eingeführte Maßnahmen, sondern bezeichnet die für die jeweiligen Szenarien angenommene Kontaktrate im Sinne von "Anzahl der pro Zeiteinheit in der Bevölkerung stattfindende Paar-Kontakte".

Soft Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 35% des Werts im Spätsommer, als die Fallzahlen noch niedrig waren
Strong Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 25% des Werts im Spätsommer (entspricht der Kontaktreduktion, der in der Erklärung der Helmholtz-Gemeinschaft und weiteren Forschungsgemeinschaften gefordert wird)
Severe Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 15% des Werts im Spätsommer
No Shutdown: Sogenannte Basisreduktion der Kontaktrate auf ca. 60% des Werts im Spätsommer. Dieser Wert wird auch außerhalb der oben beschriebenen Shutdown-Perioden angenommen.

Wie wird der derzeit stattfindende „Lockdown Light“ eingestuft?

Der Effekt des „Lockdown Light“ ist wahrscheinlich zwischen einem „Soft Shutdown“ und einem „Strong Shutdown“ einzuordnen. Prinzipiell ist es sehr schwer, die Wirkung einzelner Maßnahmen vorherzusagen. Insbesondere weil in der Vergangenheit eher Maßnahmen-Pakete als einzelne Maßnahmen angewendet wurden. Aus den Fallzahlen ist die Wirkung einzelner Maßnahmen daher nicht abzuschätzen. Wir geben deshalb nur Szenarien unter der Annahme verschieden starker Kontaktreduktionen an. Besonders das Verhalten der Bevölkerung angesichts der bekannten Zahlen und politischer Vorgaben lässt sich nur schwer abschätzen.

 
 

4. Alternativ-Szenario: Dauerhafte Maßnahmen, mit und ohne zusätzliche Shutdown-Perioden

 

Intensivbetten-Belegung

  

Tägliche Neuinfektionen
(7-Tages-Mittel)

Die täglichen Neuinfektionen würden in diesem Szenario maximal bei etwa 20.000 liegen. Die Zahl der belegten Intensivbetten könnte voraussichtlich auf unter 10.000 reduziert werden.

Annahmen:

Soft Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 25% des Werts im Spätsommer durch dauerhafte Maßnahmen und zusätzliche Shutdown-Perioden
Strong Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 20% des Werts im Spätsommer durch dauerhafte Maßnahmen und zusätzliche Shutdown-Perioden
No Shutdown: Reduktion der Kontaktrate auf ca. 50% des Werts im Spätsommer durch dauerhafte Maßnahmen ohne zusätzliche Shutdown-Perioden

Aufgrund der hier angenommenen dauerhaften Maßnahmen wurde die Basisreduktion etwas stärker als in den Szenarien 1-3 angenommen (50% statt 60%). Ergänzend dazu wurden weitere Szenarien mit zusätzlichen „Soft Shutdowns“ und „Strong Shutdowns“ berechnet. Der aktuelle „Lockdown Light“ kann näherungsweise dem angenommenen „Soft Shutdown“ im November zugeordnet werden.

Weitere Informationen:

COVID-Maßnahmen - und dann? (PDF, 2 MB)

Jülich Supercomputing Centre (JSC)

Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS)

COVID-19 Prognosemodelle zum Infektionsgeschehen

Corona-Forschung am Forschungszentrum Jülich

Originalpublikationen (zur Modell-Entwicklung im Laufe der ersten Covid-19-Welle):

Fuhrmann, J., Barbarossa, M.V.
The significance of case detection ratios for predictions on the outcome of an epidemic - a message from mathematical modelers
Arch Public Health 78, 63 (2020). https://doi.org/10.1186/s13690-020-00445-8

Modeling the spread of COVID-19 in Germany: Early assessment and possible scenarios
MV Barbarossa, J Fuhrmann, J Meinke, S Krieg, HV Varma, N Castelletti, and Th Lippert
PLOS ONE 15(9): e0238559 (2020), https://doi.org/10.1371/journal.pone.0238559

Kontaktdaten:

Dr. Jan Fuhrmann
Forschungszentrum Jülich, Jülich Supercomputing Centre
Tel.: +49 69 798 47691
E-Mail: j.fuhrmann@fz-juelich.de

Pressekontakt:

Annette Stettien
Forschungszentrum Jülich, Unternehmenskommunikation
Tel.: 0173 7403839
E-Mail: a.stettien@fz-juelich.de

Tobias Schlößer
Forschungszentrum Jülich, Unternehmenskommunikation
Tel.: 02461 61-4771
E-Mail: t.schloesser@fz-juelich.de

Letzte Änderung: 19.05.2022