Atome unter der Linse

Seit fast 20 Jahren verschreibt sich das Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen (ER-C) der Aufgabe, Materialien bis hinunter auf die Ebene der Atome und Moleküle abzubilden und zu analysieren. Jetzt tritt es in eine neue Ära ein.

Carsten Sachse

Der Projektname ER-C 2.0 lässt an ein Update denken, wie es beispielsweise bei Software üblich ist. „Aber unser Vorhaben als einfache Verbesserung zu bezeichnen, wäre untertrieben“, sagt Prof. Carsten Sachse, einer von drei Direktoren des ER-C. „Es geht um mehr. Als nationale Forschungsinfrastruktur (siehe Kasten „Von besonderer Bedeutung“) stoßen wir in eine neue Dimension vor – mit neuen Geräten, neuen Anwendungen und neuen Möglichkeiten für Wissenschaft und Industrie.“

Fünf weltweit einzigartige Elektronenmikroskope (siehe „Steckbrief der Mikroskope“) sollen Werkstoffen und biologischen Proben Informationen entlocken, die detailreicher sind als alle bisher erhältlichen. Da geht es zum Beispiel um Position und chemischen Zustand einzelner Atome oder um Veränderungen im Aufbau der Stoffe, die sich innerhalb von wenigen Femtosekunden – dem billiardstel Teil einer Sekunde – abspielen. Solche detaillierten Einblicke ermöglichen es Wissenschaftler:innen, schneller innovative Materialien – etwa für die Energie- wende – oder neue Medikamente zu entwickeln.

Steckbrief der Mikroskope

TOMO
BIO
SPECTRO
OPERANDO
FEMTO

Erstmalig werden Atomsonden-Tomographie und hochauflösende Elektronenmikroskopie in einem Gerät kombiniert. So soll es möglich werden, mit einer einzigen Messung Art und Position von Millionen von Atomen in einem Volumen von mehreren Tausend Kubiknanometern exakt zu bestimmen.

Das erste, mit einem Helium-Kryostaten gekühlte Mikroskop, das mit Linsenkorrektoren ausgestattet ist, um in biologischen Proben Atome bei -250 °C sichtbar zu machen.

Das erste Ultratieftemperatur-in-situ-Mikroskop mit ultrahoher Energieauflösung. Es soll zur Analyse der elektronischen Struktur und der Vibrationen von strahlenempfindlichen Proben und Polymeren dienen sowie zur Untersuchung von atomaren oder molekularen Prozessen.

Ultrahochvakuum-Mikroskop, um Materialien zu beobachten, während sie im Einsatz sind – etwa während des Betriebs einer Batterie.

Mikroskop mit einer Femtosekunden-Auflösung, um dynamische und ultraschnelle Prozesse im Nanometer-Bereich zu analysieren.

Elektronenmikroskope machen winzige Details sichtbar

Für die Höchstleistungen brauchen die empfindlichen Elektronenmikroskope eine perfekte Umgebung: frei von Erschütterung, abgeschirmt vor elektromagnetischer Strahlung und mit gleichbleibender Temperatur. Ein 23 Millionen Euro teures Forschungsgebäude, das im Herbst 2024 vollständig betriebsbereit sein soll, bietet genau das. Unter anderem besitzt es als Fundament einen riesigen, bis zu 1,50 Meter dicken Betonblock, der dafür sorgt, dass beispielsweise die Vibrationen durch vorbeifahrende LKW die Messergebnisse nicht verfälschen.

Alle unter einem Dach

Joachim Mayer

Der Neubau ist aber nicht nur für die Mikroskope konzipiert. „Bisher sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des ER-C auf mehrere Gebäude verteilt. Dass wir künftig unter einem Dach sind und mehr Raum etwa für den interdisziplinären Austausch erhalten, ist von großem Wert“, sagt Direktor Prof. Joachim Mayer. Der Leiter des Bereichs Materialwissenschaften und Werkstofftechnik ist überzeugt, dass sich Innovationen oft durch einen Brückenschlag zwischen Disziplinen ergeben.

Im ER-C profitieren drei Fächer voneinander: die beiden klassischen Disziplinen Materialwissenschaft und Festkörperphysik sowie die Lebenswissenschaften, die vor rund fünf Jahren dazugekommen sind. „Mit hoch sensitiven Methoden lässt sich die Elektronenmikroskopie auch für biologische und medizinische Fragen nutzen“, sagt Sachse, Leiter des Bereichs Strukturbiologie. Inzwischen könne man mithilfe von Elektronenmikroskopen die Struktur von körpereigenen Proteinen bestimmen und beispielsweise sehen, wie Medikamente daran binden.

Marc Heggen mit dem TITAN-Elektronenmikroskop am ER-C

Von besonderer Bedeutung

Als Forschungsinfrastrukturen gelten Großgeräte und Instrumente, aber auch zum Beispiel Datensammlungen, Rechennetze und Begegnungszentren. Gerade Großgeräte wie Elektronenmikroskope ermöglichen vielversprechende Grundlagenforschung und technologische Fortschritte, sind aber in der Regel teuer, komplex und aufwendig in der Betreuung. Mit einer Nationalen Roadmap – einer Art Fahrplan für die langfristige Ausrichtung der Spitzenforschung – fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgewählte Infrastrukturen mit besonderer Bedeutung für den Wissenschaftsstandort Deutschland. Die darin geförderten Infrastrukturen erhalten jeweils über 50 Millionen Euro.

Zugriff auf neueste Geräte

Rafael Dunin-Borkowski

Im Laufe seiner fast 20-jährigen Geschichte hat das ER-C immer wieder gemeinsam mit Unternehmen und akademischen Partnern Mikroskope und Methoden weiterentwickelt. „Die Unternehmen liefern uns ihre neuesten Geräte. Unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler testen sie, entwickeln neue Software und geben anschließend eine Rückmeldung, was ihnen dabei auffiel“, erläutert Direktor Prof. Rafal Dunin-Borkowski, Leiter des Bereichs Physik nanoskaliger Systeme. „Auf Grundlage dieses Feedbacks stellten uns die Unternehmen verbesserte Versionen der Geräte zu Verfügung und wir hatten damit Zugang zu neuen Technologien, bevor sie jemand anderes hatte – ein perfektes Beispiel für Wissens- und Technologietransfer, der Forschung und Anwendung nützt.“

Nun können die ER-C-Direktoren die Zusammenarbeit mit den Unternehmen noch weiter ausbauen – etwa neue Kühltechnologien entwickeln, um auch Quantenmaterialien zu untersuchen: „Die Fördermittel, die mit der Aufnahme des ER-C 2.0 in die nationale Roadmap für Forschungsinfrastrukturen verbunden sind, eröffnen uns hierfür viel bessere Möglichkeiten“, sagt Dunin-Borkowski. „Die neue Ära kann beginnen.“

Beiträge zum Strukturwandel

Das ER-C 2.0 liefert einen wertvollen Anreiz für Unternehmen, sich im Rheinischen Revier anzusiedeln. Mit seinen Hochleistungsmikroskopen an einem Ort bietet das ER-C 2.0 etwa der IT- oder der Energietechnik-Industrie einzigartige Möglichkeiten, beispielsweise Materialien für Energiespeicher oder Quantenprozessoren zu untersuchen und weiterzuentwickeln. Auch Pharma- und Medizinunternehmen, die sich in der Region niederlassen, können sich unterstützen lassen. Dabei geht es nicht nur um Geräte und Know-how, sondern auch um hochqualifizierte Arbeitskräfte. Das Centrum fördert zudem gezielt die Bereitschaft seiner Wissenschaftler:innen, Unternehmen auszugründen. Auch Mikroskophersteller und ihre Zulieferer profitieren, zum Beispiel durch den Kontakt mit den zahlreichen Nutzerinnen und Nutzern der Geräte. Am Aufbau des nationalen Kompetenzzentrums für höchstauflösende Elektronenmikroskopie sind Jülich, die RWTH Aachen und die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beteiligt, mit verschiedenen Partnern bestehen Kooperationen.

Modell des Forschungsneubaus vom „Ernst Ruska-Centrum 2.0“
Modell des Forschungsneubaus vom „Ernst Ruska-Centrum 2.0“
pbr Planungsbüro Rohling AG

Text: Frank Frick | Fotos: Juri Barthel/Forschungszentrum Jülich; Forschungszentrum Jülich/Ralf-Uwe Limbach

Ansprechpersonen

Prof. Dr. Rafal Dunin-Borkowski

Director of the "Physics of Nanoscale Systems" division at ER-C-1 and Director of the Institute for Microstructure Research (PGI-5)

  • Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen (ER-C)
  • Physik Nanoskaliger Systeme (ER-C-1 / PGI-5)
Gebäude 05.2 /
Raum 3006n
+49 2461/61-9297
E-Mail
  • Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen (ER-C)
  • Materialwissenschaft und Werkstofftechnik (ER-C-2)
Gebäude 05.2 /
Raum EB3001
+49 2461/61-6070
E-Mail
  • Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen (ER-C)
  • Strukturbiologie (ER-C-3)
Gebäude 05.2 /
Raum 4011
+49 2461/61-2030
E-Mail
Text erschienen in effzett Ausgabe 2-2023
Download Ausgabe
Alle Ausgaben
Printabonnement
Letzte Änderung: 16.02.2024