Mikrometer um Mikrometer: Dem Gehirn auf der Spur
Der Startschuss ist gefallen: Das deutsch-kanadische Helmholtz International BigBrain Analytics and Learning Laboratory (HIBALL) nimmt seine Arbeit auf. Das Ziel: ein dreidimensionaler Hirnatlas auf zellulärer Auflösungsstufe. Der Weg: die enge Verzahnung von Künstlicher Intelligenz, Supercomputing und Neurowissenschaften. Mit dabei: über 40 Wissenschaftler.
Als die Jülicher Neurowissenschaftlerin Katrin Amunts im Jahr 2003 mit ihrem kanadischen Kollegen Alan Evans begann, 7.404 histologische Schnitte eines menschliches Hirns zu scannen, war völlig unklar, ob man dieses Gehirn jemals dreidimensional am Rechner rekonstruieren kann. Zu jenem Zeitpunkt gab es noch keine technischen Möglichkeiten, die Datenflut zu bewältigen. Doch die Forscher ließen sich nicht entmutigen und machten sich auf den Weg – das BigBrain entstand. Heute setzen Wissenschaftler das 20-Mikrometer-Modell als Referenzgehirn ein – die technischen Voraussetzungen sind längst geschaffen.
Die Forschungskooperation HIBALL geht nun einen Schritt weiter und will ein Hirnmodell mit einer Genauigkeit von einem Mikrometer, also einem Tausendstel Millimeter, entwickeln. Mehrere Petabyte an neurowissenschaftlichen Daten müssen verarbeitet werden – wie genau, ist noch nicht geklärt. Aber Katrin Amunts und ihre Kollegen setzen auch hier wieder auf den technischen Fortschritt. In HIBALL übernehmen deshalb auch erstmals disruptive Verfahren aus der Künstlichen Intelligenz (KI)I eine bedeutende Rolle ein.
Ein Interview mit Prof. Katrin Amunts über die Herausforderungen und Bedeutung von HIBALL für die internationale Forschungsgemeinschaft
Highball – in den USA und Kanada bezeichnete man so auch ein Signal für Züge, die mit voller Geschwindigkeit durch einen Bahnhof rauschen. Eine Metapher zu der deutsch-kanadischen Hirnforschungskooperation, die nun offiziell an Fahrt aufnimmt?
Amunts: Ja, dieses Bild hat uns in der Tat gut gefallen und spielte für die Namensgebung eine Rolle. Es steht gewissermaßen für: Los geht’s – und zwar mit voller Kraft.
Sie arbeiten mit Ihren kanadischen Kollegen – insbesondere Prof. Alan Evans – schon seit den 1990er Jahren erfolgreich zusammen. Was macht nun für Sie das International Lab HIBALL so besonders?
Die Forschungskooperation hebt die Zusammenarbeit auf eine neue Ebene, die über die bilaterale Achse Jülich-Montreal hinausführt. Wir haben nun auch Partner aus der KI und aus dem Supercomputing dabei, um das Hirnmodell BigBrain weiterzuentwickeln. Am Ende soll ein Referenzgehirn entstehen, das für viele andere Fragestellungen – beispielsweise aus der Medizin – die Basis bildet.
Im BigBrain-Modell liegt die Auflösung bei 20 Mikrometern. Nun wollen Sie in HIBALL ein Hirnmodell mit einer Genauigkeit von einem Tausendstel Millimeter schaffen. Warum?
Bei 20 Mikrometern sieht man zwar die meisten Zellen, aber es gibt auch Zellen, die nur zehn Mikrometer groß sind, und die bleiben bisher „unscharf“. Wir wollen deshalb auf die Ebene von einem Mikrometer innerhalb jedes Gewebeschnitts gehen. Das Ziel wird eine räumliche Auflösung bei 1x1x1 Mikrometer sein. Erst dann kann man die Zellen mit ihren verschiedenen Formen und Fortsätzen sehen und verstehen, wie sie im Gehirn angeordnet sind. Auf dieser Grundlage lassen sich Verbindungen zu Hirnfunktionen und kognitiven Leistungen knüpfen.
Diese extrem hohe Auflösung ist mit gigantischen Datenmengen verbunden. Wie wollen Sie diese Flut bewältigen?
Das ist eine große Herausforderung. Bei HIBALL sprechen wir über mehrere Petabyte. Das lässt sich nur erreichen, wenn völlig neue Analysemethoden, die beispielsweise mit tiefen neuronalen Netzwerken oder maschinellem Lernen arbeiten, moderne Speicher- und Kommunikationstechnologien und leistungsstarke Computer eingesetzt werden. Wir wollen darüber hinaus Netzwerke von Nervenzellen im menschlichen Gehirn analysieren und Netzwerkmodelle entwickeln, um daraus abzuleiten, wie sich die Funktion künstlicher neuronaler Netze verbessern lässt.
...also eine Win-Win-Situation für Neurowissenschaftler und KI-Experten?
...ja, auf der einer Seiten profitieren die KI- und Computing-Forscher vom BigBrain und den damit verbundenen Kenntnissen und Modellen von neuronalen Netzen und andererseits wir Neurowissenschaftler von KI und dem Computing. Klar ist: Wir können die Datenflut ohne die modernen Verfahren nicht mehr rechnen und analysieren.
Ist KI dann der Schlüssel, um das gesamte Gehirn eines Tages zu verstehen?
Sicherlich ist KI einer der Schlüssel, in HIBALL setzen wir auf Machine- und Deep Learning-Verfahren, die beide zur KI zählen. Und ohne die könnten wir ein so ehrgeiziges Projekt nicht angehen. Deshalb freuen wir uns, CIFAR als Partner zu haben; die Forschungsorganisation die die Pan-Canadian Artificial Intelligence Strategy leiten. Mit MILA in Montreal haben wir eines der weltweit führenden Zentren in Sachen Deep Learning gewonnen, dessen wissenschaftliche Direktor, Yoshua Bengio, einer der Vordenker auf diesem Gebiet ist.
Brauchen Sie denn als Neuroforscherin Deep-Learning-Verfahren in Ihrem Alltag?
Die Datenmengen in einem einzigen Bild und die Komplexität der Information sind heute oft so groß, dass kein Wissenschaftler sie mehr „zu Fuß“ analysieren kann. Es braucht automatisierte und robuste Verfahren, diese großen Bildmengen zu verarbeiten und zu analysieren. In vielen Bereichen ergänzen Deep-Learning-Verfahren zunehmend die klassischen Bildanalysemethoden. Wir Neurowissenschaftler sehen, dass künstliche neuronale Netze ausgesprochen hilfreich sind, um bestimmte Muster zu erkennen oder drei-dimensionale Hirnmodelle zu rechnen. Das Instrumentarium, solche methodisch schwierigen Fragen zu lösen, hat sich in den letzten Jahren durch die künstlichen neuronalen Netze stark gewandelt.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Supercomputing-Expertise aus Jülich?
Die Kombination von Supercomputing und den Deep-Learning-Verfahren sowohl in Jülich als auch in Montreal ist besonders vielversprechend. Wir geraten schnell mit der Größe unserer Hirndaten an Kapazitätsgrenzen – also braucht man Supercomputer, viel Speicherplatz und Experten vor Ort – das bietet Jülich.
Und: Wir wollen in HIBALL große Mengen an Daten zwischen Kanada und Deutschland austauschen – es liegen aber ein paar tausend Kilometer dazwischen. Deshalb wollen wir eine gemeinsame Plattform schaffen, die sich für diesen Austausch eignet. Da steckt viel technologisches Know-how drin, welches die Kollegen vom JSC mitbringen. Sie bauen gemeinsam mit ihren kanadischen Kollegen das Fundament für die Zusammenarbeit und schaffen eine Plattform, die die Welt verknüpft: Wissenschaftler aus allen Ländern sollen in der Zukunft auf der HIBALL-Plattform gemeinsam an denselben Daten rechnen und forschen, sie austauschen, herunterladen oder hochladen.
Das BigBrain-Modell und die 3D-Karten sind heute ein Paradebeispiel für geteilte Big Data. Sie können mittlerweile von jedermann im Internet angeklickt, gedreht, gezoomt und bestaunt werden. Soll in HIBALL etwas Ähnliches am Ende entstehen?
Prinzipiell ja. Wenn es um das 20-Mikrometer-BigBrain-Modell geht, so sprechen wir über ein Terabyte an Daten – schon die lassen sich nicht einfach „schnell mal eben herunterladen“. Deshalb haben wir webbasierte Werkzeuge entwickelt, bei denen nur die Daten übertragen werden müssen, die man sich gerade anschaut, ähnlich, wie es sich auch bereits in anderen Bereichen bewährt hat. Wenn wir auf die 1-Mikrometer-Ebene gehen, wird es noch anspruchsvoller. Wir müssen also Verfahren entwickeln, die es erlauben, Daten zu verarbeiten, ohne sie transportieren zu müssen.
Neurowissenschaftler, Informatiker, Mathematiker – wie schaffen Sie es überhaupt, mit den Kollegen aus der KI und dem Supercomputing dieselbe „Sprache“ zu sprechen?
Das war und ist gar nicht immer einfach, jedoch ist interdisziplinäres Arbeiten die wesentliche Grundlage für den Erfolg. Ich denke, dass diese erfolgreiche Arbeit über die Fächergrenzen hinweg in der Tat eine der größten Errungenschaften der vergangenen Jahre ist. Davon profitieren wir auch in HIBALL. Wir haben gemeinsame Visionen, es gibt einen regen Austausch, nicht nur auf dem Papier. Diese Zusammenarbeit leben wir. Da greife ich auch mal kurz zum Handy und rufe drüben an!
In HIBALL wollen wir aber auch dafür sorgen, dass die nächste und übernächste Generation von Forschern an der Grenze zwischen Neurowissenschaft und Computing ausgebildet wird und wir unterstützen deshalb in HIBALL den transatlantischen Forscheraustausch auf allen Karrierestufen.
Welche Bedeutung hat HIBALL für das Forschungszentrum Jülich?
Das Lab zeigt, dass in Jülich innovative Forschung über Ländergrenzen hinweg in einem sich besonders schnell entwickelnden Forschungsgebiet gemacht wird. Die Helmholtz-Gemeinschaft fördert nur wenige International Labs. 2018 waren es nur drei. Und die Zusammenarbeit ist ein wichtiger Beitrag für die Strategie des Forschungszentrums, in der Information und Datenwissenschaften eine zentrale Rolle spielen. Nun hat die Neurowissenschaft mit HIBALL und der Künstlichen Intelligenz einen weiteren starken Akzent gesetzt.
Welche Rolle spielt HIBALL mit Blick auf die europäische Flaggschiff-Initiative, das Human Brain Project, dessen wissenschaftliche Leiterin Sie sind?
HIBALL ergänzt die Entwicklung im Human Brain Project, aber auch die kanadische Initiative „Healthy Brains for Healthy Lives“. Mit diesen Partnerschaften kann HIBALL eine weit größere Wirkung entfalten, als wenn es alleine agieren würde und auch die Partnerinstitutionen profitieren von der Stärkung an der Schnittstelle zwischen räumlich hochaufgelösten Hirnmodellen, Computing und KI. Es ist ein großer Gewinn, wenn man erreichen kann, dass viele kleine und große Zahnräder ineinander greifen und eine große Dynamik entwickeln. HIBALL wird den beiden großen Initiativen zugutekommen. Wir erleben gerade, wie die Neurowissenschaften von der Revolution in den Informationstechnologien profitieren. HIBALL soll hierbei wichtige Impulse setzen, die in die Neurowissenschaften, Medizin, aber auch Technologieentwicklung und Gesellschaft hineinwirken werden.
Eine persönliche Frage zum Abschluss: Sie sind Jahrgang 1962 – hätten Sie damals im Studium gedacht, dass Sie sich eines Tages in die Hirnwelt „reinzoomen“ können?
In der Tat gab es einen unglaublichen Umbruch seit meiner Studienzeit, in der ich mich schon für Bildanalyse interessiert habe, um die Architektur des Nervengewebes und seine Funktionen besser zu verstehen. Wir hatten damals im Institut ein Bildanalysesystem der Firma Leitz, mit dem es möglich war, die Architektur von Nervenzellen zu quantifizieren und statistisch zu beschreiben. Das schien mir damals der richtige Weg zu sein, um die Organisationsprinzipien des Hirns zu verstehen und diese Forschung prägte meinen weiteren Weg.
Als wir 2003 anfingen, histologische Schnitten für BigBrain anzufertigen, hatten wir noch keinen konkreten Plan, wie genau wir die 7.404 Bilder digitalisieren und drei-dimensional rekonstruieren können. Es gab eine unendliche Menge an Einzelproblemen, die noch nicht gelöst waren. Aber wir haben einfach darauf vertraut, dass wir eines Tages die technischen Voraussetzungen schaffen können. Und das war richtig! Die Zusammenarbeit mit unseren Partnern in Montreal, mit Alan Evans und seinem Team, hat hier zu einem Durchbruch geführt.
HIBALL
Der offizielle Startschuss fällt am 26. Juni 2020: Mit dem Helmholtz International BigBrain Analytics and Learning Laboratory (HIBALL) wird ein deutsch-kanadisches Forschungskonsortium mit Partnern aus der Helmholtz Gemeinschaft, der McGill University, MILA und CIFAR in Montreal eingeweiht. An der Online-Konferenz nehmen Wissenschaftler aus aller Welt teil – unter den Rednern zur Eröffnung sind die deutsche Botschafterin in Kanada, Sabine Sparwasser, Prof. Otmar Wiestler, der Präsident der Helmholtz Gemeinschaft, Prof. Wolfgang Marquardt, der Vorstandsvorsitzende des Forschungszentrums Jülich und Vize-Präsident der Helmholtz Gemeinschaft sowie Pawel Swieboda, der General Director vom Human Brain Projekt.
HIBALL wird für die Dauer von fünf Jahren mit einem Gesamtbudget von sechs Millionen Euro von der Helmholtz Gemeinschaft und den kanadischen Partnern gefördert. Montreal – mit MILA als einem der weltweit führenden Zentren für Deep Learning – ist dabei ein wichtiger Standort für die Projektziele. Insgesamt arbeiten rund 40 Wissenschaftler aus Jülich und Montreal gemeinsam an dem hochdetaillierten 3-D-Modell.
Das Interview führte Katja Lüers