Einfach anders?

Das Thema Autismus erhitzt die Gemüter: Die einen sehen darin eine schwere Krankheit, andere einfach nur ein Anderssein. Kai Vogeley hat Verständnis für beide Perspektiven. Der Psychiater widmet sich dem Thema seit Jahren – in Jülich als Forscher, in der Uniklinik Köln als Arzt und Leiter der Ambulanz „Autismus im Erwachsenenalter“.

„Soziale Kontakte können Menschen mit Autismus Angst einjagen“ - Das Plakat ist Teil einer langfristigen Kampagne, mit der die Agentur Ruf Lanz, Zürich im Auftrag des Autismus Forum Schweiz die Öffentlichkeit für das Thema Autismus sensibilisieren möchte.
Ruf Lanz, Zürich

Wir tun es regelmäßig, ohne darüber nachzudenken: jemanden in die Arme nehmen. Intuitiv wissen wir, wann der richtige Zeitpunkt ist, wie lange die Umarmung dauern darf und wie nah wir einander kommen dürfen, ob wir uns tröstend drücken oder nur freundschaftlich herzen. „Bei einer Umarmung senden und empfangen wir ständig nonverbale Signale über Blickkontakt, Gesichtsausdruck und den Abstand zum Gegenüber. Das läuft ohne Nachdenken ab, wie ein kontinuierlicher, unsichtbarer Datenstrom im Hintergrund“, erklärt Kai Vogeley. Der Professor für Psychiatrie und Psychotherapie leitet an der Uniklinik Köln die Spezialambulanz „Autismus im Erwachsenenalter“ und am Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM 3) die Arbeitsgruppe „Soziale Kognition“.

Eine Umarmung so schwer wie eine komplizierte Grammatik

Menschen mit Autismus fällt es schwer, diesen „unsichtbaren Datenstrom“ wahrzunehmen, die Gefühle ihrer Mitmenschen zu deuten und angemessen zu reagieren. Eine Umarmung jagt ihnen Angst ein und löst oft Stress und Unwohlsein aus. Das bedeute jedoch nicht, dass keine Gefühle vorhanden sind, sondern dass derjenige sie nur sehr schwer identifizieren und kommunizieren kann. Nonverbale Kommunikationsbotschaften können Menschen mit Autismus nicht entschlüsseln – vielleicht vergleichbar mit einem Text, bei dem wir nur jede zehnte Zeile lesen dürfen – der Inhalt würde sich niemandem erschließen. Kein Wunder also, dass eines Tages eine Person mit Autismus vor Vogeley in der Praxis stand und ihn um eine Gebrauchsanweisung für eine Umarmung bat. „Seitdem betrachte ich Umarmungen aus einem neuen Blickwinkel, das ist wie eine komplizierte Grammatik“, so Vogeley.

Autismus-Spektrum-Störung: Aktuell gilt für Deutschland das diagnostische Handbuch der WHO (ICD 10) – dort wird Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung definiert. Drei Hauptformen werden unterschieden: Frühkindlicher Autismus, Asperger Syndrom und Atypischer Autismus. In Vorbereitung ist inzwischen das ICD 11, das 2022 in Kraft treten soll. Danach ist nur noch von einer Autismus-Spektrum-Störung mit unterschiedlichen Schweregraden die Rede – wie es schon im 2013 erschienenen Klassifikationssystem DSM-V des amerikanischen Psychiatrieverbandes passiert ist.


Weltweit 1 Prozent Menschen mit Autismus

Schätzungen zufolge leben weltweit 1 Prozent Menschen mit Autismus. Demnach sind allein in Deutschland 800.000 Frauen und Männer betroffen. Die genauen Ursachen für Autismus sind noch immer ungeklärt. In der Forschung besteht Einigkeit, dass es keine allgemeingültige Ursache für Autismus gibt und dass erbliche Faktoren eine entscheidende Rolle spielen. „Doch welche und wie viel Gene verantwortlich sind, bleibt unklar“, so Vogeley. Manche Wissenschaftler gehen von 100 beteiligten Genen aus, andere von Tausenden – das menschliche Genom umfasst 25000 Gene.

Kai Vogeley, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie, leitet an der Uniklinik Köln die Spezialambulanz „Autismus im Erwachsenenalter“ und am Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM 3) die Arbeitsgruppe „Soziale Kognition“.
Forschungszentrum Jülich / Sascha Kreklau

Krankheit – ja oder nein?

Das diagnostische Handbuch der Weltgesundheitsorganisation WHO, die „International Classification of Disease“, (ICD) definiert Autismus als „Tiefgreifende Entwicklungsstörung“. Dazu zählen Formen wie Frühkindlicher Autismus, Atypischer Autismus und das Asperger-Syndrom. In Deutschland sind Kassenärzte verpflichtet, ihre Diagnosen entsprechend der ICD-Klassifikationen zu stellen. Was irgendwie nach schwarz und weiß oder krank und gesund klingt, sorgt sowohl unter Medizinern als auch Betroffenen immer wieder für Unmut, Diskussionen und Missverständnisse. „Es ist zwar sachlich korrekt, Autismus als eine genetisch bedingte Störung des Nervensystems zu bezeichnen“, räumt Vogeley ein. Aber aus seiner langjährigen Erfahrung aus der Ambulanz, die seit 2005 existiert, weiß der Psychiater, dass die Wahrheit individuell ausfällt: „Es kommen Menschen mit Autismus zu mir, die ein erfolgreiches Leben führen: Lehrer, Krankenschwestern, Psychologen, Versicherungsmakler, sie merken zwar, dass sie in bestimmten Situationen anders reagieren als ihre Mitmenschen, kommen damit aber gut klar und benötigen lediglich die Diagnose, um für sich Klarheit zu schaffen“, sagt der Mediziner. Diese Menschen stünden mitten im Leben und haben einen Weg für sich und ihr Umfeld gefunden, um mit ihren Denk- und Lebensstilen umzugehen. „Da fällt es mir als Arzt schwer, diese Menschen als krank zu bezeichnen“, so Vogeley.

Form 1 - Frühkindlicher Autismus: Als frühkindlichen Autismus oder Kanner-Autismus bezeichnet man eine Form von Autismus, bei der die Sprachentwicklung verzögert ist oder ganz ausbleibt und Intelligenzminderungen bestehen können. Menschen mit frühkindlichem Autismus weisen die typischen Merkmale auf, die alle Menschen im Autismus-Spektrum gemeinsam haben: Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion, eingeschränkte Interessen, repetitives Verhalten.

Anders sei es bei jenen, die ihm eröffnen, dass es ihnen nicht gut gehe, dass sie im Alltag nicht zurechtkommen, keine Freunde haben und nicht mehr zur Arbeit gehen können. Laut Vogeley leiden 40 bis 50 Prozent der Autisten unter Depressionen. Sie wissen, dass sie anders denken und fühlen, und arbeiten permanent an sich, um den üblichen Gesellschaftsvorstellungen zu entsprechen und zu funktionieren – oft mit sehr hohem Aufwand und oft vergebens. „Diese Menschen benötigen dringend Unterstützung“, resümiert Vogeley. Und dann sind da noch jene, die sich vorstellen in der Hoffnung, dass die Diagnose Autismus ihr absonderliches Verhalten erkläre könne. „Aber: Jemand, der erst mit 15 oder 16 Jahren Eigenheiten entwickelt, braucht vielleicht Hilfe, jedoch hat er keine tiefgreifende Entwicklungsstörung“, bringt es der Forscher auf den Punkt. Er stellt nur für etwa ein Drittel seiner Patienten die Diagnose Autismus. Und so hat der Arzt es durchaus schon erlebt, dass Menschen sich darüber beklagt haben, dass sie die Diagnose nicht bekommen haben.

Form 2 - Asperger Syndrom: Klischeehaft sind Menschen mit Asperger-Syndrom für die einen Wunderkinder, für die anderen Betroffene, die nicht in der Lage sind, ein eigenständiges Leben zu führen. Menschen mit Asperger-Syndrom entwickeln zwar oft Spezialinteressen, aber sind deshalb noch keine besonderen Ausnahmetalente. Sie finden den Umgang mit anderen Menschen und den Aufbau von Beziehungen schwierig. Sie haben keine sprachlichen Probleme. Ihr Wortschatz ist oft groß, und sie können sich grammatikalisch korrekt und komplex ausdrücken. Ihre sprachlichen Probleme liegen ausschließlich im Bereich der sozialen Kommunikation, der Verwendung von Sprache im sozialen Kontext.

„Soziale Kontakte können Menschen mit Autismus Angst einjagen“ - Das Plakat ist Teil einer langfristigen Kampagne, mit der die Agentur Ruf Lanz, Zürich im Auftrag des Autismus Forum Schweiz die Öffentlichkeit für das Thema Autismus sensibilisieren möchte.
Ruf Lanz, Zürich

Forschung in Jülich

Mit seiner Jülicher Arbeitsgruppe untersucht Vogeley, inwiefern nonverbale Kommunikation die Vorgänge im Gehirn messbar beeinflusst. So haben sich die Wissenschaftler in einer Studie mit dem „Sozialen Blick“ beschäftigt: Wie interpretieren Menschen mit und ohne Autismus den Blick eines Gegenübers. Eingesetzt wurde ein virtueller Charakter, der weder redet noch nonverbal kommuniziert, sondern die Testperson nur anschaut. Verändert wurde lediglich die Blickdauer des virtuellen Charakters – bis maximal vier Sekunden. „Wir konnten zeigen, dass bei Menschen ohne Autismus mit anhaltender Blickdauer die Sympathie für das künstliche Gegenüber steigt“, sagt Vogeley. Bei ihnen wird das „soziale Gehirn“ aktiviert, jene Hirnareale, die für das Erleben von Mitgefühl und sozialer Interaktion verantwortlich sind. Das bildgebende Verfahren der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT) hatte die Gehirnaktivitäten aufgezeichnet. „Bei Menschen mit Autismus hingegen blieb die Messkurve in Regionen des ,sozialen Gehirnsʻ flach. Die ausbleibende Reaktion kann als neurobiologischer Indikator dafür gewertet werden, dass es Betroffenen schwerer fällt, Gefühle und Absichten anderer intuitiv zu deuten“, erklärt Vogeley. Darüber hinaus könnte es sein, dass die sogenannte soziale Motivation von Personen mit Autismus verringert ist. „Das würde bedeuten, dass Menschen mit Autismus soziale Kontakte weniger interessant und weniger kurzweilig oder unterhaltend empfinden könnten. Das ist bislang aber nur eine Vermutung“, betont der Wissenschaftler.

Form 3 - Atypischer Autismus: Atypischer Autismus ist der Begriff, den Mediziner verwenden, wenn das Verhaltensmuster einer Person ins Autismus-Spektrum passt, aber nicht alle Kriterien für eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum erfüllt, beispielsweise, wenn soziale Kommunikationsstörungen bestehen, aber keine sich wiederholenden und gleichbleibenden Interessen und Verhaltensweisen.

Die Jülicher interessieren sich auch für die Geschlechter-Verteilung bei der Autismus-Diagnose: Sind Jungen oder Mädchen stärker betroffen? Bei Kindern mit Asperger Syndrom –  also Autismus, bei dem die Betroffenen einen IQ höher als 70 aufweisen – kommen auf ein Mädchen bis zu zehn Jungen, bei den Erwachsenen sind es nur noch etwa zwei Männer auf eine Frau. Mit Genetik lässt sich dieses Phänomen nicht erklären. „Momentan gehen wir davon aus, dass Mädchen unterdiagnostiziert werden. Ihnen gelingt es offensichtlich besser, sich anzupassen und weniger aufzufallen“, erklärt Vogeley. „Camouflage“ heißt der Fachbegriff. Das bestätigen auch Studienergebnisse der Jülicher Forscher.

Inselbegabungen: Besonders begabt sind die sogenannten „Savants“, von denen es weltweit weniger als 100 gibt. Einer von ihnen ist der Brite Daniel Tammet, der auch synästhetische Fähigkeiten hat. Das bedeutet, er hört zum Beispiel Töne, wenn er bestimmte Farben sieht, oder kann Zahlen schmecken. Tammet spricht diverse Sprachen und rechnet in Sekundenschnelle komplizierte Algorithmen.

Heilbar oder nicht?

Nach dem derzeitigen Wissensstand ist Autismus nicht heilbar. Therapeutische und pädagogische Förderung und Unterstützung helfen jedoch, positive Veränderungen zu erreichen. So hat Jürgen Dukart vom INM 7, einem anderen Forschungsbereich im Institut für Neurowissenschaften und Medizin, mit Kollegen aus der Schweiz, den Niederlanden und Großbritannien bestimmte, sich wiederholende Aktivitätsmuster im Gehirn entdeckt, die nur bei Menschen mit Autismus vorkommen. Dieses konsistente Muster sogenannter funktioneller Konnektivitäten könnte langfristig als Biomarker für Therapien eingesetzt werden. Die Idee: Mediziner könnten künftig über Medikamente das Hirnmuster in Richtung „gesundes“ Muster verschieben und damit den Gesundheitszustand verbessern. „Die Ergebnisse der Studie, die mehr als 800 Autisten in vier Kohorten berücksichtigt, könnten dazu beitragen, bisherige Therapieformen zu optimieren oder neue Behandlungswege zu finden“, resümiert Dukart. Denn auch wenn es viele Menschen mit Autismus gibt, die der Forschung kritisch gegenüberstehen und die Ansicht vertreten, sie seien zwar anders, aber durchaus gesund, darf die Wissenschaft nicht jene Menschen aus dem Fokus verlieren, die in ihrem Leben mit Autismus nicht zurechtkommen.

Geschichte des Autismus: Der Amerikaner Leo Kanner beschrieb im Jahre 1943 als erster das Symptom des frühkindlichen Autismus als eine Untergruppe innerhalb der Schizophrenien im Kindesalter. Die von ihm untersuchten autistischen Kinder wehrten jeden Kontakt ab, sprachen nicht oder nur in eigentümlicher Weise und waren in extremer Weise um die Gleicherhaltung ihrer Umwelt bemüht. Kanners diagnostische Kriterien zur Bestimmung dieser ungewöhnlichen Verhaltensstörung sind noch heute von Bedeutung. Unabhängig von Kanner beschrieb zeitgleich der Wiener Kinderarzt Hans Asperger ein ähnliches Erscheinungsbild und nannte dies Autistische Psychopathie. Erst 1981 griff Lorna Wing die Arbeit von Asperger auf und untersuchte 35 Kinder hinsichtlich der Diagnose Asperger-Syndrom. Der Stein kam ins Rollen, immer mehr Wissenschaftler setzten sich mit Autismus auseinander. Erst 1993 bzw. 1994 wurde diese Störung in den gängigen Diagnosesystemen ICD 10 und DSM-IV (Klassifikationssysteme der Psychiatrie) aufgenommen. „Das erklärt auch, warum bei vielen betroffenen Männern und Frauen, die heute 40 Jahre oder älter sind, keine Diagnose gestellt wurde“, erklärt Prof. Kai Vogeley vom INM-3.

Katja Lüers

Weitere Informationen:

Institut für Neurowissenschaften und Medizin - Kognitive Neurowissenschaften (INM-3)

Online-Plattform Autismus-Kultur

Letzte Änderung: 05.03.2023